Die Geschichte vom finsteren Erlenweib

Die Erle – wahrlich zum Fürchten

Wer Goethes „Erlkönig“ von 1782 liest, den überläuft noch heute ein Schauer, denn die dort geschilderte Atmosphäre ist ebenso bedrohlich wie auch ein wenig mystisch. Dort heißt es:

„Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? 
Siehst Vater du, den Erlkönig nicht?
Den Erlkönig mit Kron und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif...“.

Die Erle, die gern an Flussläufen und anderen Gewässern zu finden ist, jagt uns heutigen Menschen keine Angst mehr ein. Umso mehr Angst hatten unsere Vorfahren, wenn sie – etwa in einem von Nebel durchzogenen Auenwald – auf Erlenbäume stießen. Denn den Erlen wurde in früheren Zeiten nachgesagt, dass gefährliche Moor-, Nebel- und Wassergeister in ihnen hausten. Wer sich in solchen Wäldern aufhielt, konnte leicht von Irrlichtern abseits der Wege gelockt werden und dort auf das finstere „Erlenweib“ stoßen. Diese Angst einflößende Hexe lockte die arglosen Menschen immer weiter, immer tiefer in die gefährlichen Moorgebiete, denen kaum einer lebendig entkam. Und die Begegnung mit dem mächtigen Erlkönig musste ja auch das kranke Kind in Goethes Ballade bekanntermaßen mit dem Leben bezahlen.
Ihre Angst vor der Erle fassten unsere Ahnen übrigens in folgendem Sprichwort zusammen: „Erlenholz und rotes Haar, sind auf gutem Boden rar.“ Apropos rot – wenn man eine Erle ansägt, verfärbt sich der Saft ihres frischen Holzes in kürzester Zeit rot. Kein Wunder, dass die Menschen auf dem Lande früher annahmen, dass die Erle bluten würde, wenn man sie fällte – dies wird ihren finsteren Ruf bestimmt noch zusätzlich gefördert haben. Dass diese Rotfärbung schlicht eine Folge von Oxidationsprozessen ist, war unseren Vorfahren natürlich noch nicht bekannt und so nannten sie die Erle kurzerhand „Roterle“. Keltische Krieger machten sich die Rotfärbung des Erlensaftes zunutze, um ihre Feinde in Angst und Schrecken zu versetzen: Sie bemalten mit dem roten Farbstoff ihre Gesichter und sahen anschließend noch weit gefährlicher aus.
Doch die Erle war in der Vorstellung der Menschen früher nicht nur mit Angst besetzt, sondern galt auch als Trägerin magischer Kräfte. So verwendeten weise Frauen und Männer ihr Laub und ihre Rinde, um bei Kranken deren Fieber zu senken oder Rheuma, Halsentzündungen und Geschwüre, aber auch schmerzende Zähne zu behandeln. Außerdem wurden abgerissene Erlenäste dazu genutzt, Blutungen zum Stillstand zu bringen. Quälte sich die Kuh im Stall beim Kalben, boten zerriebene Erlenfruchtzapfen Linderung. Die Erle war mit all den ihr zugeschriebenen Eigenschaften, positiven wie negativen, aus dem Leben unserer Ahnen nicht wegzudenken. Und noch im Jahre 1912 berichtete der Schweizer Botaniker Gustav Hegi von Volksbräuchen, die damals angewendet wurden: „Erlenzweige – besonders, wenn sie am Karfreitag geschnitten werden, gelten im Volksglauben als zauberabwehrendes Mittel. So halten sie auch in die Wiesen gesteckt die Maulwürfe fern, in den Scheunen aufbewahrt schützen sie vor Mäusefraß. Und die Blütenzapfen der Erlen sind dem Landmann ein Orakel für den Ertrag der kommenden Ernte: Ellerholz voll Köpfe, bedeutet volle Töpfe“. Welche Ernte die Erlen den Bauern wohl in diesem Jahr prophezeien werden?                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                
  
Text: Antje Peters-Reimann, www.gruenwort.de

Bilder: 
Alnus glutinosa, aus: Prof. Dr. Otto Wilhelm Thomé: Flora von Deutschland, Österreich und der Schweiz 1885 
Moritz von Schwind: „Erlkönig“ etwa 1830